Texte und Inspirationen
Momo und die Kraft des Zuhörens
Zur Vorinformation für Leute, die die Geschichte von Momo nicht kennen:
Momo ist ein kleines vielleicht 10, vielleicht auch 12 Jahre altes Mädchen, das allein etwas außerhalb von einem kleinen italienischen Dorf in einem alten Amphitheater lebt, sich aber kein bisschen einsam fühlt, weil es guten Kontakt zur Dorfbevölkerung hat. Von den Leuten aus dem Dorf wird sie mit Essen und Trinken versorgt, die Kinder spielen gern und oft mit ihr und auch die Erwachsenen besuchen sie gern.
Momo und die Kraft des Zuhörens
… von nun an ging es der kleinen Momo gut, jedenfalls nach ihrer eigenen Meinung. Irgendetwas zu essen hatte sie jetzt immer, mal mehr, mal weniger, wie es sich eben fügte und wie die Leute es entbehren konnten. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte ein Bett und sie konnte sich, wenn es kalt war, ein Feuer machen. Und was das Wichtigste war: sie hatte viele gute Freunde. Man könnte nun denken, dass Momo ganz einfach großes Glück gehabt hatte, an so freundliche Leute geraten zu sein -, und Momo selbst war durchaus dieser Ansicht. Aber auch für die Leute stellte sich schon bald heraus, dass sie nicht weniger Glück gehabt hatten. Sie brauchten Momo, und sie wunderten sich, wie sie früher ohne sie ausgekommen waren. Und je länger das kleine Mädchen bei ihnen war, desto unentbehrlicher wurde es ihnen, so unentbehrlich, dass sie nur noch fürchteten, es könnte eines Tages wieder auf und davon gehen.
So kam es, dass Momo sehr viel Besuch hatte. Man sah fast immer jemand bei ihr sitzen, der angelegentlich mit ihr redete. Und wer sie brauchte und nicht kommen konnte, schickte nach ihr, um sie zu holen. Und wer noch nicht bemerkt hatte, dass er sie brauchte, zu dem sagten die anderen: "Geh doch zu Momo!" Dieser Satz wurde nach und nach zu einer feststehenden Redensart bei den Leuten der näheren Umgebung. So wie man sagt: "Alles Gute!" oder "Gesegnete Mahlzeit!" oder "Weiß der liebe Himmel!", genauso sagte man also bei allen möglichen Gelegenheiten: "Geh doch zu Momo!"
Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen? Nein, das alles konnte Momo ebenso wenig wie jedes andere Kind. Konnte Momo dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie z.B. besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie - weil sie doch in einer Art Zirkus wohnte - am Ende gar Tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen? Nein, das war es auch nicht. Konnte sie vielleicht zaubern? Wusste sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonst wie Zukunft voraus sagen? Nichts von alledem.
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war Zuhören.
Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie ihn ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder und unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf denen es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf - und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine
besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören.
(aus Michael Ende: Momo, Stuttgart 1973, S. 14ff)